Neuer OeNB-Wage-Tracker zeigt langsamen Rückgang des Tariflohnwachstums an

12.08.2024

Alfred Stiglbauer

Der OeNB-Wage-Tracker ist ein neu entwickelter Indikator der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB). Er kann die vergangene Entwicklung der Tariflöhne gut nachzeichnen und ist gleichzeitig ein guter Vorlaufindikator für die Entwicklung in den kommenden Monaten. Aktuell zeigt der Wage-Tracker eine langsame Abnahme des Tariflohnwachstums bis Jahresende an. Die Lohndynamik im Jahr 2024 bleibt damit höher als im Euroraum. Erst ab 2025 kommt es zu einer beschleunigten Abnahme des Lohnwachstums. Das Lohnwachstum im öffentlichen Sektor bleibt bis Jahresende höher als in der Privatwirtschaft.

Nationale Zentralbanken und EZB sammeln verstärkt Daten über Tariflöhne
Angesichts des starken Anstiegs der Inflation im Euroraum auf Werte bis über 10 % und der Sorge um eine daraus entstehende Preis-/Lohnspirale begannen die Zentralbanken des Eurosystems vor etwa zwei Jahren damit, systematisch Daten zu einzelnen Kollektivvertragsabschlüssen zu sammeln. Diese werden zu sogenannten „Wage-Trackern“ zusammengeführt, die eine zeitnahe Einschätzung der aktuellen und zukünftigen Lohnentwicklung ermöglichen. Diese Daten legen nahe, dass das Lohnwachstum im Euroraum gestiegen ist (vergleiche dazu einen Blog-Beitrag der EZB). Dieser Anstieg ist mit derzeit knapp 5 % zwar höher als der historische Durchschnitt, fällt jedoch im Vergleich zum vorangegangenen Inflationsanstieg moderat aus.

Lohnwachstum reagierte auf höhere Inflation
Die Lohnentwicklung in Österreich stellt dabei eine Ausnahme dar, da hierzulande die Entwicklung der kollektivvertraglichen Mindestlöhne und -gehälter (kurz Tariflöhne) de facto an die Inflation indexiert ist: Es gibt zwar keine gesetzliche Verpflichtung zur Anpassung der Tariflöhne an die Inflation wie etwa in Belgien, aber in den österreichischen Kollektivvertragsverhandlungen ist es üblich, dass die Tariflohnsteigerung zumindest im Ausmaß der Inflation im abgelaufenen Jahr erfolgt. Hierzu wird zumeist die „rollierende Inflation“ (der Durchschnitt der VPI-Inflationsraten für die letztverfügbaren zwölf Monate) herangezogen. Mit aktuell 8,5 % ist das Wachstum der österreichischen Tariflöhne deutlich höher als im Euroraum insgesamt (vergleiche dazu die letzte Wirtschaftsprognose der OeNB für Österreich).

KV-Abschlüsse folgten der rollierenden Inflation
Die nachstehende Grafik stellt den Verlauf der rollierenden Inflation (ockerfarbene Balken) und die mittlere Höhe der Kollektivvertragssteigerungen dar. Weil zwischen der Einigung auf die „abzugeltende Inflation“ und einem KV-Abschluss oft mehrere Wochen vergehen können (und weil ebenso die Publikationsverzögerung beim VPI zu berücksichtigen ist), ist die rollierende Inflation hier um zwei Monate verzögert dargestellt. Dies führt dazu, dass die Spitze dieses Inflationsmaßes mit knapp 10 % hier im Juli 2023 angezeigt wird (statt im Mai 2023, wo dieser Wert tatsächlich zu verzeichnen war).

Die Grafik demonstriert eindrucksvoll, dass die mittleren KV-Steigerungen (Mediansteigerungen, blaue Punkte) der Entwicklung der verzögerten rollierenden Inflation sehr eng folgten. Der Höhepunkt der mittleren KV-Steigerungen war mit etwas über 10 % ebenfalls im Frühsommer 2023 zu beobachten.

Der OeNB-Wage-Tracker als einfaches Maß für das Wachstum der Tariflöhne
Die durchschnittliche Steigerung der neuen KV-Abschlüsse eines Monats ist kein aussagekräftiger Indikator für das gesamtwirtschaftliche Wachstum der Tariflöhne. Das liegt an der unterschiedlichen gesamtwirtschaftlichen Bedeutung der Kollektivverträge: Es gibt viele kleine und nur wenige wirklich große, d. h. für viele Beschäftigte gültige Kollektivverträge. Außerdem werden Kollektivverträge nicht gleichmäßig über das Jahr hinweg erneuert, vielmehr tritt die Mehrheit von ihnen im Zeitraum von November bis Mai in Kraft, darunter wiederum gehäuft am Beginn eines jeden Jahres.

Mit dem Tariflohnindex (TLI) der Statistik Austria gibt es eine Maßzahl, die die durchschnittliche Entwicklung der kollektivvertraglichen Mindestlöhne und -gehälter wiedergibt. Der OeNB-Wage-Tracker ist als Ergänzung dazu ein Indikator, der alle verfügbaren monatlichen KV-Steigerungen mit Beschäftigungsgewichten aggregiert. Er ist nicht nur in der Lage, die vergangene und aktuelle Entwicklung des TLI nachzuzeichnen, sondern liefert auch Informationen über das künftige Lohnwachstum.

Da Kollektivverträge für ihre Dauer (meist ein Jahr) eine dauerhafte Erhöhung der kollektivvertraglichen Mindestlöhne und Gehälter bewirken, lässt sich das zu erwartende, im Jahresabstand gemessene Tariflohnwachstum auch für die nahe Zukunft fortschreiben. Der Wage-Tracker kann grundsätzlich als Vorlaufindikator für das zukünftige Wachstum des TLI angesehen werden. Allerdings kommt es auch darauf an, wie viele Beschäftigte hinter den zukünftigen Werten des Wage-Trackers stehen Dies wird durch den sogenannten kollektivvertraglichen Abdeckungsgrad gemessen. Grundsätzlich gilt, je weiter in der Zukunft die Werte des Wage-Trackers liegen, desto mehr vergangene Kollektivvertragsabschlüsse fallen als Erklärungsfaktor für das zukünftige Tariflohnwachstum weg und desto weniger Beschäftigte liegen diesen Werten zu Grunde. Je geringer also der zukünftige Abdeckungsgrad wird, desto geringer ist die Verlässlichkeit des Wage-Trackers als Prognosewert für das Wachstum des TLI. (Eine detaillierte Beschreibung der Konstruktion des Wage-Trackers ist am Ende des Blog-Beitrags als Download verfügbar.)

Der Wage-Tracker zeigt langsames Sinken des Tariflohnwachstums im heurigen Jahr an, danach beschleunigter Rückgang
Die folgende Abbildung stellt in der linken Teilgrafik die Entwicklung des TLI (blaue Linie) und des Wage-Trackers (orangefarbene Linie) für den privaten Sektor der österreichischen Wirtschaft dar. (Die Entwicklung für die Gesamtwirtschaft ist sehr ähnlich und wird deshalb nicht gezeigt.) Das Tariflohnwachstum hat Anfang 2024 mit etwa 9 % seinen Höhepunkt erreicht und nimmt bis zum Jahresende langsam auf etwa 8 % ab. Diese Fortschreibung ist relativ zuverlässig, weil bis zum Jahresende die zugrunde liegende kollektivvertragliche Abdeckung hoch bleibt (über 80 %, siehe die ockerfarbene gestrichelte Linie).

Ab Anfang 2025 kommt es zu einem starken Rückgang des Tariflohnwachstums. Gleichzeitig nimmt jedoch auch der kollektivvertragliche Abdeckungsgrad stark ab, was daran liegt, dass im Jänner besonders viele Abschlüsse in Kraft treten, deren Lohnsteigerungen derzeit noch unbekannt sind. Es gibt jedoch bereits KV-Abschlüsse, die ins nächste Jahr hineinreichen und die einen starken Rückgang des Tariflohnwachstums ab 2025 erwarten lassen. Weil die Inflation gemäß OeNB-Prognose weiterhin sinkt, wird auch die für zukünftige KV-Abschlüsse maßgebliche rollierende Inflation zurückgehen. Daher ist zu erwarten, dass der Rückgang beim Wachstum der Tariflöhne stärker ausfallen wird als hier dargestellt.

Heuer starke Lohndivergenz zwischen öffentlichem und privatem Sektor
Während das Wachstum der Tariflöhne in der Privatwirtschaft im Verlauf des heurigen Jahres abnimmt, bleibt das Wachstum der Gehälter im öffentlichen Sektor (hier definiert als die ÖNACE-Sektoren O–Q, d. h. inklusive des Unterrichts- sowie des Gesundheits- und Sozialwesens) bis zum Jahresende hoch. Dies liegt vor allem an einem hohen Abschluss für die öffentlich Bediensteten (+9,3 % ab Jänner 2024). Ähnlich hohe Abschlüsse gab es auch in anderen Sektoren, die sich am öffentlichen Sektor orientieren (z. B. Sozialwirtschaft, Universitäten, private Kinderbetreuungseinrichtungen, Caritas etc.).

Maßgebliche Abschlüsse im privaten Sektor traten hingegen zwar ebenfalls vor bzw. zum Jahreswechsel in Kraft, fielen aber zum Teil geringer aus, wie beispielsweise diejenigen für die Metaller (+8,5 %) und die Handelsangestellten (+8,4 %). Die Lohnsteigerungen im Baugewerbe und im Hotel- und Gastgewerbe traten erst im Mai in Kraft und waren wegen der gesunkenen rollierenden Inflation mit +7,1 % bzw. +7,25 % ebenfalls geringer. Dies führt im Jahr 2024 zu einem deutlich höheren Tariflohnwachstum im öffentlichen Sektor als in der Privatwirtschaft. Dieser Unterschied fällt bei den tatsächlichen Verdiensten je Arbeitnehmer:in sogar noch stärker aus, weil es im privaten Sektor aufgrund der schwachen Konjunkturlage zu einer negativen Lohndrift kommt, d. h., die Verdienste pro Kopf wachsen in schwächerem Ausmaß als die Tariflöhne.

Auch im öffentlichen Sektor dürfte es 2025 wegen der sinkenden Inflation zu einem Rückgang der Tariflöhne kommen. Mangels relevanter KV-Abschlüsse (erkennbar am sehr niedrigen Abdeckungsgrad) ist hier der Verlauf des Wage-Trackers ab Anfang 2025 wenig aussagekräftig

Die zum Ausdruck gebrachten Ansichten müssen nicht zwingend mit den Ansichten der OeNB bzw. des Eurosystems übereinstimmen.