Neue Wege in der Pensionspolitik

07.03.2025

Markus Knell

Einkommensabhängige Ersatzraten als Schlüssel zu mehr Fairness und Nachhaltigkeit

Das aktuelle Regierungsprogramm sieht vor, ab 2035 einen neuen Nachhaltigkeitsmechanismus einzuführen, falls die geplanten Maßnahmen zur Kostendämpfung bis dahin nicht ausreichend wirken. Die genaue Ausgestaltung dieses Mechanismus bleibt jedoch unklar – das Programm spricht lediglich von einem „Mix von Maßnahmen“ (S. 99). Dieser Beitrag diskutiert einen möglichen Reformvorschlag für eine langfristige Lösung. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Frage, ob die einheitliche Formel im österreichischen Pensionssystem tatsächlich fair ist. Da Lebenserwartung und Einkommen zusammenhängen, begünstigt das derzeitige System Personen mit höherem Einkommen. Eine Reform mit einkommensabhängigen Ersatzraten könnte mehr Gerechtigkeit schaffen: Wer weniger verdient, könnte früher in Pension gehen oder eine höhere Ersatzrate erhalten. Gleichzeitig ließe sich so eine nachhaltige Anhebung des Pensionsantrittsalters sozial ausgewogener gestalten.

Ausgangssituation

In Debatten um die budgetäre Stärkung des österreichischen Pensionssystems gerät man oft an einen Punkt, wo sich zwei konträre Positionen gegenüberstehen. Die eine Seite argumentiert mit der steigenden Lebenserwartung und verweist auf internationale Beispiele, wonach eine Erhöhung des Pensionsantrittsalters die einzig logische Antwort sei. Die andere Seite hält dagegen, dass die Lebenserwartung stark von sozioökonomischen Faktoren abhängt. Eine generelle Anhebung des Pensionsalters würde somit vor allem Menschen mit niedrigerem Einkommen benachteiligen. Während die Befürworter:innen einer Anhebung des Pensionsalters auf Nachhaltigkeit setzen und sich durch historische Entwicklungen bestätigt sehen („ein Jahr zusätzliche Lebenserwartung pro Jahrzehnt“ – siehe Oeppen & Vaupel, 2002), betonen die Kritiker:innen den Maßstab von Fairness und verweisen auf eine eigene Grafik („14 Jahre Unterschied in der Lebenserwartung zwischen dem ärmsten und dem reichsten Prozent“ – siehe Chetty et al., 2016). An diesem Punkt kommt die Debatte zum Stillstand. Beide Seiten haben valide Argumente, aber die Perspektiven scheinen unversöhnlich.

Ein möglicher Kompromiss

In solchen Situationen kann es helfen, den Betrachtungsrahmen zu erweitern und bestehende Prinzipien zu hinterfragen. Eine zentrale Stellschraube könnte die Anpassung der Ersatzraten sein. Derzeit folgt das österreichische Pensionssystem einem einheitlichen Modell: Wer mit 65 Jahren in Pension geht und 45 Beitragsjahre aufweist, erhält eine Erstpension in Höhe von 80 % des durchschnittlichen Lebenseinkommens. Ein früherer Pensionsantritt ist zwar möglich, führt aber zu Abschlägen von 5,1 % pro Jahr. Diese Regelung gilt für alle Versicherten – unabhängig von ihrem Lebenseinkommen.

Doch dieses proportionale System ist keineswegs alternativlos. Statt einer starren Ersatzrate könnte eine progressive Staffelung eingeführt werden, ähnlich wie bei Einkommenssteuern. Höhere Einkommen würden die 80 % erst bei einem späteren Pensionsantritt (z. B. mit 67 Jahren) erreichen, während Geringverdienende dieselbe Ersatzrate bereits mit 63 Jahren erhalten könnten. Auf diese Weise ließe sich eine nachhaltige Anhebung des Pensionsantrittsalters sozial gerechter gestalten. Die budgetären Effekte wären ähnlich wie in aktuellen Reformvorschlägen, jedoch würde die Anpassung gerechter verteilt.

Konkretisierung der Reformidee

Um den Vorschlag praktikabel zu gestalten, bietet sich eine Berechnungsmethode an, die aus dem Einkommenssteuersystem bekannt ist: eine Staffelung mit Grenz-Ersatzraten. Beim Pensionsantritt zum derzeitigen Regelpensionsalter von 65 Jahren wird das relative Lebenseinkommen (RLE) berechnet, also der Quotient aus dem eigenen durchschnittlichen Lebenseinkommen und dem Durchschnitt aller Versicherten. Die Ersatzraten könnten dann etwa wie folgt gestaffelt werden:

Anteil des RLE

Grenz-Ersatzrate

0–0,4

100 %

0,4–0,8

75 %

0,8–max.

50 %

Beispiele:

  • Geringverdienende mit einem RLE bis 0,4 (2023: ca. 1.440 EUR pro Monat) erhalten 100 % ihres Einkommens als Pension. Für relative Lebenseinkommen ab 1.440 EUR würden die Ersatzraten monoton fallen, wie in Grafik 1 dargestellt. 
  • Die Durchschnittsperson mit einem RLE von 1,0 (2023: ca. 3.600 EUR) käme weiterhin auf die aktuelle Ersatzrate von 80 %.
  • Spitzenverdienende mit einem Einkommen auf dem Niveau der Höchstbeitragsgrundlage (2023: 5.850 EUR) könnten hingegen nur noch mit einer Ersatzrate von 68 % rechnen.

Diese Regelung kann auch in einkommensspezifische Pensionsalter übersetzt werden:

  • Geringverdienende (100 % Ersatzrate mit 65 Jahren) würden bei einer Pensionierung mit 62 Jahren noch auf 80 % kommen.
  • Spitzenverdienende (68 % Ersatzrate mit 65 Jahren) müssten dagegen bis zum Alter von 67 Jahren arbeiten, um die 80 % zu erreichen.

Wenn nun – wie häufig diskutiert – das gesetzliche Pensionsantrittsalter erhöht werden sollte, hätte das je nach Einkommen sehr unterschiedliche Auswirkungen. Würde man sich beispielsweise an einem durchschnittlichen Antrittsalter von 67 Jahren orientieren, dann könnten Personen in niedrigen Einkommensgruppen weiterhin mit 65 Jahren in Pension gehen und erhielten dennoch 80 % ihres Lebenseinkommens. Personen mit höheren Einkommen hingegen müssten dafür arbeiten, bis sie 69 oder 70 Jahre alt sind. Dadurch würde eine solche Reform nicht für alle gleich harte Einschnitte bedeuten, sondern die sozialen Unterschiede in der Lebenserwartung fairer berücksichtigen.


Q & A: Häufige Fragen und Einwände

Dieser Reformvorschlag wirft viele Fragen auf. Im Folgenden werden einige zentrale Punkte kurz beantwortet:

Wäre eine solche Differenzierung ein Tabubruch?
In gewisser Weise ja. Die meisten kontinental-europäischen Pensionssysteme basieren auf dem Äquivalenzprinzip – also auf dem Grundsatz der Proportionalität zwischen Beiträgen und Pensionen. Dieses Prinzip würde hier jedoch nicht abgeschafft, sondern nur um eine progressive Komponente ergänzt.

Gibt es ähnliche Modelle in anderen Ländern?
Das US-amerikanische Social Security System nutzt bereits eine progressive Pensionsformel. Auch in der wissenschaftlichen Literatur werden regelmäßig Vorschläge für solche Modelle gemacht – etwa für Deutschland, Schweden oder allgemeine Pensionssysteme (Breyer & Hupfeld, 2008; Holzmann et al., 2020; Sanchez-Romero et al., 2020).

Welche Rolle spielt das Pensionskonto?
Das Pensionskonto wäre weiterhin zentral:

  • Es erfasst bereits erworbene Ansprüche.
  • Es sorgt für Transparenz bei den individuellen Ersatzraten.
  • Es könnte in Echtzeit berechnen (etwa mithilfe von „Grenzsteigerungsprozentsätzen“), wie sich die aktuellen Ansprüche entwickeln.

Warum braucht es ein System mit „Knickpunkten“?
Solch ein System vermeidet die sprunghafte Ungleichbehandlung, die bei der Verwendung von Schwellenwerten auftaucht. Die tatsächliche Ersatzrate hat so einen kontinuierlichen Verlauf.

Woher stammen die Werte der „Knickpunkte“?
Die exakten Werte müssten politisch festgelegt werden und können unterschiedlich begründet werden.

  • Einerseits können sie als Maßnahme angesehen werden, den notwendigen demografischen und ökonomischen Anpassungsdruck sozial gerechter zu verteilen.
  • Andererseits können sie aber auch als Korrektur verstanden werden, die die bestehenden Lebenserwartungsunterschiede ausgleicht. Unter diesem Blickwinkel betrachtet sind sie also nicht willkürlich gewählt, sondern sind vielmehr so kalibriert, dass sie bei einer Lebenserwartungsdifferenz von rund sechs Jahren zwischen unteren und oberen Einkommensgruppen versicherungsmathematische Fairness gewährleisten (siehe Knell, 2018).
  • In jedem Fall muss bei der Wahl der Knickpunkte auch die Anpassung laufender Pensionen berücksichtigt werden (Richter & Werding, 2020). Aus Platzgründen bleibt dieser Aspekt hier ausgespart.     

Warum soll nicht nach anderen Kriterien differenziert werden?
Die Lebenserwartung variiert auch in anderen Dimensionen (Bildung, Wohnort oder Lebensstil etc.). Es gibt aber gute Gründe sich auf das Einkommen zu beschränken.

  • Der Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung ist statistisch signifikant, quantitativ maßgeblich und über die Zeit einigermaßen stabil.
  • Das Lebenseinkommen ist besser messbar und schwerer manipulierbar als andere Indikatoren.
  • Das System bleibt dadurch praktikabel und dürfte keine erheblichen Verhaltensänderungen nach sich ziehen.

Ist eine solche Differenzierung nicht genauso unfair?
Einige Gruppen (etwa Personen mit hohem Einkommen, aber geringer Lebensspanne) wären in der Tat benachteiligt. In einer Gesamtbetrachtung muss man allerdings diese Fälle der Ungleichbehandlung des jetzigen Systems gegenüberstellen. Momentan werden vor allem Geringverdienende mit niedrigerer Lebenserwartung benachteiligt.

Welche praktischen Herausforderungen gibt es?
Natürlich gibt es eine Reihe an wichtigen Fragen und Details, die in der Umsetzung geklärt werden müssten:

  • Teilzeitbeschäftigung: Wie werden jahrelange Teilzeitphasen berücksichtigt?
  • Schwerarbeitspension: Sollte sie erhalten oder angepasst werden?
  • Kindererziehungszeiten: Welche Rolle sollen sie bei der Berechnung spielen?

Was ist mit den anderen Säulen der Pensionsvorsorge?
Der skizzierte Vorschlag bezieht sich auf die erste Säule (das umlagefinanzierte staatliche Pensionssystem). Eine Reform der betrieblichen und privaten Vorsorge (zweite und dritte Säule) müsste separat diskutiert werden.

Fazit

Einkommensabhängige Ersatzraten sind ein kontroverses Konzept – aber das gilt für jede Pensionsreform. Es gibt kein perfektes System, das allen Gruppen gleichermaßen gerecht wird. Allerdings bietet der skizzierte Vorschlag eine Reihe von Vorzügen:

  • Er baut auf dem bestehenden System auf und behält den vertrauten Rahmen bei.
  • Er ist transparent und nachvollziehbar.
  • Er ist mit vertretbarem Aufwand umsetzbar.
  • Er orientiert sich stärker am Prinzip der (versicherungsmathematischen) Fairness.

Die zum Ausdruck gebrachten Ansichten müssen nicht zwingend mit den Ansichten der OeNB bzw. des Eurosystems übereinstimmen.