Univ.-Prof. Dr. DDr. h. c. Michael Lang
Leiter des Instituts für Österreichisches und Internationales Steuerrecht der WU WienIhr Projekt war Teil des Forschungsschwerpunktes „Tax and Technology“ der Wirtschaftsuniversität Wien. Womit haben Sie sich genau beschäftigt?
Das Projekt „Tax Challenges of the Digitalization of the Economy“ wurde in den Jahren 2020 bis 2023 am Institut für Österreichisches und Internationales Steuerrecht der WU durchgeführt und befasste sich mit den zentralen Fragen, die sich aus der Verbreitung digitaler Technologien für die Unternehmenslandschaft und darüber hinausgehend für Wirtschaft, Institutionen und Gesellschaft ergeben. Die fortschreitende Digitalisierung hat einen immensen Druck auf die bestehenden internationalen Steuersysteme ausgeübt, die traditionell auf die physische Präsenz von Unternehmen in einem Land angewiesen waren, um Steuersubstrat zuzuordnen und Steuern zu erheben (Stichwort Betriebsstätte (PE)). Die sich aus der Digitalisierung entwickelnden Geschäftsstrukturen multinationaler Unternehmen (MNU) haben die Wirksamkeit der Bestimmungen für die Besteuerung von Unternehmen, wie sie in bestehenden Steuerabkommen auf der Grundlage herkömmlicher Einkommenszuweisungsregeln festgelegt sind, untergraben. Während eine wirtschaftliche Tätigkeit in einem Staat früher ohne physische Präsenz denkunmöglich war, kommen heutige Unternehmen in vielen Bereichen gänzliche ohne solche Anknüpfung aus, man denke an den Bereich der Online-Dienstleistungen. Um dieser Herausforderung zu begegnen, hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) das BEPS-Projekt (Base Erosion and Profit Shifting) initiiert. Das Hauptziel unseres Projekts bestand darin, die Herausforderungen, die sich aus der Digitalisierung für Gewinnzuweisung an verschiedene Steuerhoheitsgebiete ergeben, zu untersuchen und Änderungen vorzuschlagen, die umfassende Lösungen im Einklang mit den aktuellen Debatten bieten.
Das Projekt umfasste eine gründliche Analyse der Gewinnzuweisungsoptionen, mit besonderem Schwerpunkt auf den Grundsätzen der Gewinnzuweisung an PEs gemäß Artikel 5 und Artikel 7 des OECD-Musterabkommens. Das Forschungsprojekt befasste sich auch mit der Möglichkeit vereinfachter Zuordnungsansätze im Sinne einer abschließenden Lösung der Gewinnzuweisungsdiskussion. Darüber hinaus trug das Projekt aktiv zu den laufenden Diskussionen auf Ebene der OECD bei, indem es Kommentare zu den Konsultationsdokumenten für die erste und zweite Säule lieferte. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Projekt einen umfassenden Lösungsansatz für die Herausforderungen bietet, die die Digitalisierung für die Gewinnzuweisung an die Steuerhoheitsgebiete mit sich bringt, indem es die grundlegenden Prinzipien der internationalen Besteuerung und ihr Zusammenspiel mit Verrechnungspreisansätzen in Verbindung mit den laufenden Entwicklungen auf internationaler Ebene analysiert und bewertet.
Wie kam es genau zur Wahl des Themas „Tax Challenges of the Digitalization of the Economy“?
Die Entscheidung, unsere Forschung auf die steuerlichen Herausforderungen der Digitalisierung der Wirtschaft zu konzentrieren, wurde von mehreren Faktoren bestimmt: Die rasante Digitalisierung der Weltwirtschaft hat herkömmliche Geschäftsmodelle grundlegend hinterfragt und stellt die bestehenden internationalen Steuerrechtsordnungen vor erhebliche Herausforderungen. Hieraus ergab sich unsere Forschungsfrage, wie steuerrechtliche Bestimmungen an diese neuen Gegebenheiten angepasst werden können, um sicherzustellen, dass die Besteuerung gerecht und effizient bleibt und den durch die digitalen Unternehmen verursachten Herausforderungen gerecht werden kann.
Grundlegend für unsere Forschung war das Aufkommen neuer digitaler Geschäftsmodelle, die Unternehmen in mehreren Rechtsordnungen ohne nennenswerte physische Präsenz entfalten. Herkömmliche Steuervorschriften, die sich bei der Bestimmung der Steuerpflicht stark auf diese physische Präsenz stützen, sind zunehmend unzureichend, um die wirtschaftlichen Aktivitäten dieser digitalen Unternehmen zu erfassen. Unternehmen im Technologiebereich haben digitale Plattformen genutzt, um ihre globale Präsenz auszuweiten. Oft haben sie jedoch keine physische Präsenz in Ländern, in denen sie einen hohen Teil ihrer Einnahmen erzielen. Diese Diskrepanz hat deutlich gemacht, dass dringend neue Steuervorschriften benötigt werden, die den Herausforderungen dieser digitalen Geschäftsmodelle wirksam begegnen können.
Das Inclusive Framework on Base Erosion and Profit Shifting (BEPS) der OECD hat bei der Bewältigung dieser Herausforderungen eine Vorreiterrolle gespielt. Die hieraus entstandenen Vorschläge, bekannt als „Pillar One“ und „Pillar Two“, boten eine umfassende Grundlage für unsere Untersuchung. „Pillar One“ zielt auf eine gerechtere Aufteilung der Besteuerungsrechte zwischen den Rechtsordnungen ab, insbesondere zugunsten der Länder, in denen digitale Dienstleistungen konsumiert werden. „Pillar Two“ hingegen zielt darauf ab, einen globalen Mindeststeuersatz festzulegen, um Gewinnverlagerungen in Niedrigsteuerländer zu verhindern. Unsere Forschung soll einen Beitrag zu diesen globalen Diskussionen leisten, indem sie Einblicke, Analysen und Empfehlungen liefert, die in die Entwicklung und Umsetzung daraus entstehender Gesetzesinitiativen einfließen können.
Die aus der Digitalisierung entstandenen Herausforderungen werden von den verschiedenen Stakeholdern erkannt: So sind Unternehmen besorgt über den Verwaltungsaufwand und die Befolgungskosten, die mit den neuen Steuervorschriften verbunden sind. Steuerbehörden weisen in erster Linie auf die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der Steuervorschriften über digitale Plattformen hin. Unsere Forschung versuchte, einen Bogen zwischen diesen Perspektiven zu spannen und Lösungen vorzuschlagen, die diese verschiedenen Interessen ausgleichen und gleichzeitig die Integrität der Steuersysteme wahren.
In welche Phasen war die Projektarbeit gegliedert?
In der ersten Projektphase haben mich die wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen des Instituts für Österreichisches und Internationales Steuerrecht sowohl in wissenschaftlicher als auch in organisatorischer Hinsicht bei der Recherche zu Literatur und Rechtswissenschaft unterstützt. Auch neue wissenschaftliche Mitarbeiter:innen wurden mit der Agenda des Projekts betraut. Die Dokumentation der Literatur und der Rechtsprechung wurde mit Hilfe von studentischen Mitarbeiter:innen wesentlich unterstützt.
Der erste Meilenstein in unserem Projektverlauf war die Organisation der Konferenz „Digitalisation of the Tax Function: The Perspective of Business and Tax Administration“, gefolgt von einer weiteren Konferenz „Transfer Pricing Developments around the World 2021“. Die beiden zweitägigen Konferenzen fanden im Dezember 2020 und im Februar 2021 statt. Sie wurden von Expert:innen aus der ganzen Welt besucht, die mit unseren Mitarbeiter:innen aus Forschung und Lehre eine Reihe von anregenden Diskussionen über aktuelle Entwicklungen im Bereich der Mehrwertsteuer, über die Anwendung der Digitalisierung für die Einhaltung von Steuervorschriften und über Verrechnungspreise führten. Der Schwerpunkt dieses Austauschs lag auf den steuerlichen Herausforderungen, die sich aus der Digitalisierung der Wirtschaft ergeben.
In der zweiten Projektphase konzentrierte sich das Forschungspersonal auf die Auswertung des gesammelten Materials, und es wurden beachtliche wissenschaftliche Ergebnisse erzielt und in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht. Ebenso wurden die Forschungsergebnisse unserer Konferenz vom Februar 2021 in einem Konferenzband bei Wolters Kluwer veröffentlicht – ein weiterer Meilenstein im Projektverlauf. Als wesentliches Element des Projekts enthält dieser Konferenzband eine Zusammenstellung von sieben Beiträgen unserer Mitarbeiter:innen und externer Expert:innen, die sich mit den aktuellen Entwicklungen im Bereich der Verrechnungspreise mit dem Fokus auf Digitalisierung und dem Einsatz von Vereinfachungsmaßnahmen beschäftigen.
Wie setzte sich das Projekt in Folge dieser ersten erfolgreichen Konferenzen fort?
Eine weitere wichtige Veranstaltung in diesem Zeitraum war ein Symposium mit dem Titel „Transfer Pricing and Financial Transactions: Current Developments, Relevant Issues, and Possible Solutions“. Dieses Symposium war eine der wenigen großen Veranstaltungen, die nach der Veröffentlichung der OECD-Leitlinien für Finanztransaktionen 2020 stattfanden, und bot eine Plattform, um die umfassenden Grundlagen des Forschungsprojekts zu erweitern sowie einige der im vorangegangenen Projektzeitraum aufgeworfenen Fragen zu behandeln. Darüber hinaus organisierte das Forschungsteam erfolgreich eine weitere Konferenz, „Transfer Pricing Developments Around the World 2022“.
Welche Eindrücke aus diesen Konferenzen sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Eine der spannendsten Diskussionen, die während unseres Forschungsprojekts und auf verschiedenen Konferenzen aufkam, konzentrierte sich auf den Ansatz der OECD zur Digitalisierung und deren Auswirkungen auf die internationale Besteuerung, insbesondere in Bezug auf die globalen Anti-Base-Erosion (GloBE)-Regeln im Rahmen der „Pillar Two“ und deren Interaktion mit bestehenden Verrechnungspreisregelungen. Das OECD-Projekt zur Digitalisierung begann mit der Absicht, sich mit den einzigartigen Herausforderungen zu befassen, die digitale Unternehmen und die digitale Wirtschaft mit sich bringen. Zunächst lag der Schwerpunkt auf der Entwicklung eines internationalen Steuerrahmens, mit dem die wirtschaftlichen Aktivitäten digitaler Unternehmen, die oft in mehreren Ländern ohne nennenswerte physische Präsenz tätig sind, wirksam erfasst werden können. Dies bedeutete eine deutliche Abkehr vom traditionellen Steuerrecht, das sich bei der Bestimmung der Steuerpflicht stark auf die physische Präsenz stützt. Mit der Weiterentwicklung des Projekts vollzog sich ein bemerkenswerter Wandel in der Strategie der OECD. Anstatt sich ausschließlich auf digitale Unternehmen zu konzentrieren, weitete die OECD ihren Geltungsbereich auf große multinationale Unternehmen im Allgemeinen aus. Mit diesem breiteren Ansatz sollte sichergestellt werden, dass diese Unternehmen ein Mindestmaß an Steuern auf ihre Gewinne zahlen, unabhängig davon, wo sie erwirtschaftet werden („Pillar Two“). Diese Verlagerung wurde durch die Erkenntnis vorangetrieben, dass große multinationale Unternehmen, nicht nur digitale Unternehmen, häufig an der Aushöhlung der Steuerbemessungsgrundlage und Gewinnverlagerungen beteiligt sind. Die OECD versicherte zwar, dass die neuen Regeln, insbesondere die GloBE-Regeln der „Pillar Two“, nicht im Widerspruch zu den bestehenden Verrechnungspreisregeln stehen oder sich mit diesen überschneiden würden. Dies wäre besonders wichtig, da die Verrechnungspreisregeln für die Aufteilung von Gewinnen zwischen verschiedenen Rechtsordnungen von hoher Bedeutung sind. Auf der WU Global Transfer Pricing Conference 2023 wurden jedoch erhebliche Bedenken hinsichtlich der Interaktion zwischen diesen beiden Regelwerken geäußert. Eines der Hauptanliegen war die Frage, wie die GloBE-Regeln mit den bestehenden Verrechnungspreisregeln interagieren würden. Die Teilnehmer der Konferenz analysierten die möglichen Überschneidungen und Widersprüche. Es wurde festgestellt, dass diese Wechselwirkungen die Ermittlung der GloBE-Bemessungsgrundlage erschweren könnten. Insbesondere könnten Anpassungen, die im Rahmen der Verrechnungspreisregeln vorgenommen werden, die Berechnung des effektiven Steuersatzes für GloBE-Zwecke beeinflussen.
Ein weiterer zentraler Diskussionspunkt war die mögliche Zunahme von Verrechnungspreisprüfungen. Die Umsetzung der GloBE-Vorschriften könnte die Steuerbehörden dazu veranlassen, Verrechnungspreisvereinbarungen genauer zu prüfen, um die Einhaltung der Bestimmungen aus „Pillar One“ und „Pillar Two“ sicherzustellen. In den Diskussionen wurde auch hervorgehoben, dass die Interaktion zwischen den GloBE-Vorschriften und den Verrechnungspreisregelungen neue Steuerplanungsmöglichkeiten für multinationale Unternehmen schaffen könnte.
Konnten auch diese Erkenntnisse publiziert werden?
Aus unserer Forschung sind zahlreiche Beiträge in renommierten internationalen Fachzeitschriften entstanden. Die Ergebnisse dieser beiden Veranstaltungen wurden wieder in Konferenzbänden veröffentlicht. In der letzten Projektperiode lag der Schwerpunkt ganz grundsätzlich auf der Veröffentlichung unserer Forschungsergebnisse. Dies spiegelt sich in einer Reihe von Veröffentlichungen in bekannten Fachzeitschriften wider. Unsere Forschungsergebnisse wurden auch auf einem weiteren Kolloquium – „Transfer Pricing and Business Restructuring“ und einer weiteren Konferenz „Transfer Pricing Developments Around the World 2023“ präsentiert. Daneben wurden vom Institut auch acht wissenschaftliche Arbeiten von Studierenden betreut, um das Forschungsprojekt auch an junge Forscher zu vermitteln.
Besonders hervorzuheben ist unsere Beteiligung am öffentlichen Diskurs. Mehrfach konnten wir wertvolle Kommentare zu den Arbeiten internationaler Organisationen, wie z. B. zu den Konsultationsdokumenten der OECD zu „Amount A“ und „Amount B“ der „Pillar One“ sowie zum BEFIT-Projekt der EU, liefern und uns so aktiv an der Ausarbeitung internationaler Lösungsvorschläge beteiligen. In unseren Kommentaren zum ersten öffentlichen Konsultationsdokument zu „Amount B“ (Dezember 2022) haben wir betont, dass es als Vereinfachungsmaßnahme von entscheidender Bedeutung ist, den Anwendungsbereich nicht einzuschränken. Wir sprachen uns für die Einbeziehung von Handelsvertreter- und Kommissionärsvereinbarungen aus, trotz des anfänglichen Zögerns der OECD in dieser Frage. Unsere Argumentation war, dass diese Vereinbarungen in der Geschäftspraxis üblich sind und in den vereinfachten Ansatz von „Amount B“ einbezogen werden sollten, um eine breitere Anwendbarkeit und Wirksamkeit zu gewährleisten. Das endgültige Dokument der OECD spiegelt in der Tat unsere Vorschläge wider und bestätigt, dass der Rahmen von „Amount B“ auch für Handelsvertreter- und Kommissionärsvereinbarungen gelten würde. Diese Einbeziehung ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer breiteren und effektiveren Umsetzung von „Amount B“.