Der rollende Stein
Wie der Brief eines Nationalbank-Beamten vom 15. Jänner 1919 das Ende des Zölibat-Passus für die weiblichen Angestellten bewirkte
Dr. Edmund Ujlaky war der Erste, der sich wehrte. Höflich, aber entschlossen stellte sich der Mitarbeiter gegen die Bankleitung. Er tat dies nicht nur für sich, sondern vor allem für seine Braut.
Denn eine Hochzeit sollte neben einem schönen Ereignis vor allem eine Privatangelegenheit sein. Nicht so für das Personal der Nationalbank in den ersten 100 Jahren ihres Bestehens. Seit 1816 mussten männliche Angestellte um Erlaubnis ansuchen, wenn sie sich verehelichen wollten. Dem folgte eine Prüfung der Verhältnisse der Braut: ob sie gesund sei, ob geordnete finanzielle Rahmenbedingungen vorlägen und ob sie aus gutem Elternhaus stamme. Erst wenn diese Punkte zu keiner Beanstandung führten, erteilte die Bankleitung ihre Einwilligung zur Hochzeit – was in einigen Fällen auch verwehrt wurde.
Was diesen enormen Eingriff in das Privatleben der Mitarbeiter aus damaliger Sicht rechtfertigte, lässt sich aus dem obersten Ziel der Notenbank erklären: Die Sicherheit und Stabilität der Währung muss unter allen Umständen gewährleistet sein. Dazu müssen alle Angestellten den Kopf frei von privaten Problemen haben, um ihre Aufgabe und Verantwortung erfüllen zu können. Dem autoritär-monarchischen Ansatz des 19.Jahrhunderts folgend, gelänge das nur durch absolute Kontrolle.
Nachdem ab 1878 die ersten Frauen in der Banknotendruckerei aufgenommen wurden, verschärften sich für diese die Dienstvorschriften in punkto Verehelichung noch drastischer: Eine Hochzeit führte automatisch zur Entlassung der Mitarbeiterin, unter Verzicht auf Pensionsansprüche. Eine Frau könne unmöglich ihren Beruf und ihren Haushalt gleichzeitig ausüben, ohne dass nicht ihre berufliche Arbeitsleistung darunter leiden würde – so die damalige Auffassung, die nicht nur in der Nationalbank, sondern auch in anderen Bereichen der Gesellschaft verbreitet war. So galt dieser „Zölibat-Passus“ zum Beispiel auch für Lehrerinnen.
Während Generationen von Mitarbeitenden es nicht wagten, gegen die Dienstvorschriften aufzubegehren, änderte ein Monumentalereignis alles: Das Ende des Ersten Weltkriegs bewirkte nicht nur den Zerfall der Monarchie, sondern auch einen Umbruch in der Gesellschaft. Werte änderten sich radikal, man forderte die Abkehr vom starren Klassendenken und die Gleichstellung der Geschlechter. Eine Benachteiligung von Frauen in ihrem Dienstverhältnis in Bezug auf Eheschließungen war nicht mehr zeitgemäß.
Dr. Edmund Ujlaky wollte Karoline Ludikar heiraten, die als Beamtin ebenfalls bei der Nationalbank angestellt war. Während er nach der Hochzeit seine Stelle behalten hätte können, sollte Frl. Ludikar wegen der Verehelichung ihren Arbeitsplatz verlieren. Dr. Ujlaky wollte diese Ungleichheit nicht mehr hinnehmen. Das Ansuchen seiner Braut um Weiterverbleib in der Bank nach der Hochzeit war im Vorjahr abgelehnt worden, seitdem erneuerte er das Gesuch wiederholt, die Entscheidung ließ seit Monaten auf sich warten. Schließlich wandte er sich am 15.01.1919 direkt an die Geschäftsleitung: „Nachdem sich die Lebens- und Sicherheitsverhältnisse derart verschlechtert haben ist es unmöglich weiter zuzuwarten, da ich einem gänzlich auf sich angewiesenen Mädchen den Schutz eines Heimes nicht länger vorenthalten kann, ferner auch mit Rücksicht auf die sich soeben vollziehende soziale Evolution habe ich …das Gesuch abermals eingereicht.“
Er zeigte auf, dass die Bank mit der Kündigung seiner Braut eine „seit neun Jahren eine der wertvollsten weiblichen Arbeitskräfte der hiesigen Hauptanstalt“ verlieren würde. Und fügte hinzu: „Ich vertraue auf Ihre Welterfahrung und dem damit verbundenen höheren Niveau der ethischen und moralischen Lebensauffassung.“
Auch sein Vorgesetzter fügte einen Absatz auf diesem Brief dazu und unterstützte das Gesuch.
Langsam tastete sich die Bankleitung an die neuen gesellschaftlichen Normen heran. Im Februar 1919 notierte man während einer Sitzung des Generalrates: Gegen die Verehelichung der beiden Antragsteller sei nichts einzuwenden, weil durch deren beider Einkommen von einer stabilen finanziellen Lage des Haushaltes ausgegangen werden kann. Eine arbeitende Ehefrau verbessert die wirtschaftliche Lage einer Familie deutlich, als wenn nur ein Teil der erwerbende wäre. Noch waren diese Überlegungen nicht offiziell.
Am 31.03.1919 beschloss der Generalrat, Ausnahmeregelungen zum Zölibat-Passus zu ermöglichen. Dem Antrag von Dr. Edmund Ujlaky wurde endlich – als Einzelfallgenehmigung – stattgegeben.
Auch bei der Gemeinde Wien und bei Staatsbetrieben beschäftigte man mittlerweile verheirate Frauen. Diese soziale Umorientierung und der ab 1920 auch mit Frauen aufgestellte Betriebsrat erwirkten schließlich beim Generalrat, den Zölibat-Passus endgültig aus der Arbeitsordnung zu streichen.